Ruhe und Musse

Gegenpol zur Aktivität

Ruhe und Musse

Einst gehörten Ruhe und Muße ebenso wie Aktivität und Arbeit in das Leben eines jeden Menschen. Der Wechsel zwischen Geruhsamkeit und Betriebsamkeit hat jahrtausendelang sowohl den Tageslauf als auch den Jahreslauf geprägt. Die Nomadenvölker der Steppen fanden sich nach dem Herdentrieb abends am Feuer ein, die Lappen am Polarkreis suchten nach getaner Arbeit das geheizte Zelt auf, um zu schwitzen und zu schwätzen. Selbst in unseren Landen saßen die Arbeiter- und Bauersleut‘ noch bis vor 2-3 Jahrzehnten abends auf der Bank und schauten dem Sonnenuntergang zu. Die Arbeit war getan – jetzt kam die Ruhe.

Mit Selbstverständnis lebten die Menschen den Müßiggang als natürlichen – von der Natur gegebenen – Gegenpol zur Aktivität. Der Abend wurde gefeiert und heißt deswegen noch heute Feierabend.
So gab es also seit Menschengedenken einen ständigen Wechsel zwischen Aktivität und Passivität, zwischen Handeln und Innehalten. Gestaltet wurde dieser pulsatorische Wechsel von den Gegebenheiten des Lebens, wie Sonne und Regen, Licht und Dunkelheit, Frühling und Herbst, Sommer und Winter.

Im Tageslauf spielten die Mahlzeiten eine wichtige Rolle, im Jahreslauf die Lichtverhältnisse. Der Hunger verlangte nach Pausen und die Dämmerung nach Beendigung der Arbeit. Bei Tageslicht arbeitete der Mensch, bei Dunkelheit kam er zur Ruhe. Im Sommer war er mit seinen Aktivitäten mehr nach außen gerichtet und im Winter mehr nach innen.
So ist die Winterzeit der passende Anlass, Ruhe und Muße zum Thema meiner fünften Impulse – Mail für Erziehende zu machen und über ihre Bedeutung für die Entwicklung des Kindes und für die Gesundheit des Erwachsenen zu sprechen.

Vielleicht haben Sie schon beim Lesen der ersten Zeilen die Stirn gerunzelt? Muße – was ist das? Und wo gibt es sie noch? Die Fragen sind berechtigt. Die oben genannte Beschaulichkeit ist in unserer schnelllebigen und konsumorientierten Leistungsgesellschaft schon längst verloren gegangen. Hier und heute sind die Menschen mitgerissen im unaufhörlichen Strudel der Betriebsamkeit. Besinnung, Einkehr und Geruhsamkeit sind der zeitgeistgeprägten Hyperaktivität gewichen.

Ruhe und Muße – diese Worte beschreiben eine ruhige, arbeitsfreie und beschauliche Zeit, die uns Gelegenheit gibt zur Regeneration, Reflexion und Andacht. Es ist die Zeit des Ausruhens, des Ankommens und des Sinnierens.

Der westlich geprägte Mensch jedoch verwechselt Ruhe oder Muße irrtümlich mit Begriffen wie unnütz, untätig, überflüssig, langweilig, lahm, faul und sinnlos. Alles Attribute, die keiner will.
Wer weder unnütz noch faul sein möchte, muss demnach den Müßiggang konsequent vermeiden. Um vor uns und vor anderen als wichtig, aktiv, fleißig, kreativ, leistungswillig, strebsam, dynamisch und unternehmungslustig zu gelten, haben wir ihn aus unserem Leben gestrichen. Und zahlen dafür einen hohen Preis.

Wir Menschen sind seit Urzeiten mit speziellen Bedürfnissen ausgestattet, deren ausreichende Erfüllung unser Überleben, unsere Entwicklung und unser Wohlergehen sichert. Diese Bedürfnisse sind biologisch in uns veranlagt.
Bedürfnisse benennen den Bedarf, also das, was wir für unser Wachsen, Werden und Sein brauchen. Mit der notwendigen Erfüllung eines Bedürfnisses wird ein Mangel ausgeschlossen oder ausgeglichen. Das Ergebnis einer ausreichenden Bedürfniserfüllung ist die körperlich-seelisch-geistige Gesundheit.
Nun ist allerdings den wenigsten (westlichen) Menschen bewusst, dass auch die Muße und die Ruhe angeborene Bedürfnisse sind. Auch sie sind ein Teil unserer Natur und tragen zu Entwicklung und Wohlergehen bei.
Seit ‚Adam und Eva‘ ist es unsere menschliche Natur, dass wir Bedürfnisse haben und dass diese nach Erfüllung streben, um uns zu erhalten. Niemand kann ohne nachteilige, manchmal auch schwerwiegende Folgen diese Gesetzmäßigkeit außer Acht lassen.
Habe ich zu wenig Nahrung – so leidet der Körper. Habe ich zu wenig Bindung – so leidet die Seele. Habe ich zu wenig Freiheit – so leidet der Geist … um hier nur drei Beispiele zu nennen. Niemand kann also – wissentlich oder unwissentlich – Bedürfnisse unberücksichtigt lassen, ohne die Konsequenzen tragen zu müssen. Die Folgen einer unzureichenden Bedürfniserfüllung sind körperliche, seelische und geistige Mangelerscheinungen.

Doch wozu braucht der Mensch Ruhe und Muße?

Ruhe und Muße stillen das Bedürfnis nach innerer Einkehr, nach Regeneration, nach Ausruhen, nach Andacht und beschaulichem Innehalten. Sie schenkt uns die Begegnung mit uns selbst. Die alten Philosophen und Weisen wussten seit jeher, dass Seele und Geist schöpferische Pausen brauchen. Nach der aktiven Phase der Weltzugewandtheit brauchen sowohl der Organismus als auch ‚das Selbst‘ die passive Phase der Weltabgewandtheit – die geruhsame Hinwendung zum ICH.

Inzwischen hat die Hirnforschung die wissenschaftlichen Belege für dieses alte Wissen entdeckt. Bereits 1998 hat der Neurologe Markus Reichle bei Untersuchungen im Kernspintomografen festgestellt, dass sich bei seinen Probanden gewisse Hirnregionen bei hoher Konzentration auf eine Aufgabe äußerst aktiv zeigten, während zugleich aber die Aktivitäten in anderen Hirnregionen deutlich abnahmen. Umgekehrt nahm in diesen Bereichen die Aktivität wieder zu, sobald das zielgerichtete Denken eingestellt wurde. Viele Studien haben seitdem gezeigt, dass dieses sogenannte ‚Leerlauf-Netzwerk‘ aktiv wird, wenn der Mensch abschaltet, schläft, vor sich hin träumt, meditiert, sinniert oder im Koma liegt.

Es ist also erwiesen, dass unser Denkorgan beim ‚ziellosen Nichtstun‘ keineswegs untätig ist. Einige Hirnregionen sind dann sogar aktiver als beim zielgerichteten Denken. In den Phasen von Ruhe und Muße werden neue Verbindungen zwischen den Nervenzellen geknüpft und neue Zusammenhänge hergestellt. Kreativität entsteht.
Der Mensch macht also nicht einfach ‚Nichts‘ beim Nichtstun, er macht ‚Anderes‘ – aber ebenso Wichtiges und Wertvolles.

Befreit von äußeren Reizen „… beschäftigt sich das Gehirn vor allem mit sich selbst: Es verarbeitet Gelerntes, sortiert das Gedächtnis und versichert sich seiner eigenen Geschichte. Diese Art des neuronalen Ordnunghaltens ist sowohl für ein reibungsloses Funktionieren des Denkorgans wichtig, als auch für unser Empfinden einer eigenen unverwechselbaren Identität …“.[1]

„… Hirnforscher und Psychologen zeigen, wie wichtig Auszeiten und Momente des Nichtstuns sind: Diese fördern nicht nur die Regeneration und stärken das Gedächtnis, sondern sind geradezu die Voraussetzung für Einfallsreichtum und Kreativität, vor allem aber für das seelische Gleichgewicht …“.
Der Mensch braucht also die Muße für sein inneres Gleichgewicht und seine Gesundheit. Doch warum nimmt er sich dann so wenig Zeit dafür?
Wenn erwachsene Menschen durch ihr Leben hetzen, ununterbrochen ‚online‘ sind, auf allen Leitungen gleichzeitig kommunizieren, sich ihren Tag mit Terminen vollstopfen und noch nach Mitternacht das übernächste Event planen, dann ist das die eine Sache. Wenn sie aber das Leben ihrer Kinder ebenso atemberaubend verplanen, dann ist das eine andere …
Wenn erwachsene Menschen unter fortwährendem Zeitdruck Gereiztheit, Nervosität, Schlafstörungen, Schwindel, Bluthochdruck, Tinnitus und Rückenschmerzen als Preis für ihr ‚dynamisches‘ Leben zahlen wollen, so dürfen sie das tun. Es liegt in ihrer Freiheit.
Wenn aber schon Kindergartenkinder keinen freien Nachmittag mehr haben und bereits Grundschulkinder Beruhigungsmittel nehmen müssen, dann ist an dieser Stelle die Entwicklung in unserer Gesellschaft gründlich schief gelaufen.

Seit Jahrzehnten definieren sich die Menschen in unserer Gesellschaft immer mehr über Leistung und Besitz. Eltern wünschen seit jeher, dass ihre Kinder viel lernen und leisten und gute Noten mit nach Hause bringen, doch seit der ersten PISA-Studie ist bei uns „… der Frühförderwahn …“ ausgebrochen.[2]

Nun werden schon die Allerkleinsten ‚gebildet‘ und mit Wissen vollgestopft. In Kleinkindgruppen und Kindergärten wird nicht mehr ‚nur‘ einfach gespielt und gesungen, nein – es werden Werte vermittelt, soziales Verhalten besprochen, Verständnis verlangt, Kompromisse diskutiert, Sexualkunde unterrichtet, Regeln verabredet und Vernunft erwartet, wo – entwicklungsbiologisch gesehen – Vernunft noch nicht einmal im Ansatz vorhanden ist.

Was für ein Stress!

So werden Kinder erzogen, gebildet und mit Input überfrachtet – und immer werden im Gehirn die gleichen Areale angesprochen. Die anderen Areale aber – die uns das Wohlgefühl vermitteln, den Kontakt zu uns, zu unseren Fähigkeiten und unserer Kreativität schenken, die uns ankommen, regenerieren und die eigene Individualität spüren lassen, die uns unser So-Sein erlauben und uns daher stark fürs Leben machen – die bleiben ausgeschaltet. Denn die Muße, sie zu nutzen, ist nicht gegeben.

Es ist hinfällig, Kindern isoliertes Wissen beizubringen, ohne sie gleichzeitig träumen, faulenzen, spielen, beobachten, nichts tun, rumhängen, sinnieren, albern, lustig und unnütz sein zu lassen – sie einfach Kind-sein lassen.

Wissensvermittlung bleibt nur dann haften, wenn das Kind viel freie, unverplante Zeit für sich hat, um das Aufgenommene zu verarbeiten, zu sortieren und – in aller Ruhe – selbst die richtigen Schlüsse daraus zu ziehen. Nur dann können sich im Kind neben den kognitiven auch die kreativen Fähigkeiten entwickeln.
Ohne diesen Ausgleich – ohne dieses ‚Leerlauf-Netzwerk‘ – häuft das Gehirn lediglich isolierte Informationen an, die dem Kind zukünftig bei der Lebensbewältigung wenig hilfreich sind.

Wenn die gesunde Balance zwischen der Begegnung mit der Welt und der Begegnung mit sich selbst nicht mehr besteht, wird der Mensch schlechter gelaunt, unaufmerksamer, unzufriedener und weniger leistungsfähig sein. Dann „… fühlen wir uns fahrig, fremdgesteuert und irgendwie nur halb anwesend. Was dabei auf der Strecke bleibt, sind nicht nur die Ruhe zum Denken und zum konzentrierten Arbeiten, sondern auch die Wertschätzung unseres Lebens…“.

So wie wir stetig ein- und ausatmen müssen, so müssen wir auch stetig zwischen Innen und Außen pendeln[3], um dadurch die Balance zu erhalten. Unser Bedürfnis nach Ruhe und Muße ist gleichzeitig das Bedürfnis nach Gesundheit und innerem Gleichgewicht.

Diese Bedürfnisse sind – wie alle anderen auch – in ihrer Notwendigkeit nicht verhandelbar.
Wenn Sie nun der Meinung sind, dass der heutige modere Mensch aber doch vollkommen anders veranlagt ist, so stimmt das nur bedingt. Die seelisch-geistige Entwicklung unterscheidet sich sicherlich von der unserer Ahnen, nicht aber die körperliche Beschaffenheit.

Nach wie vor werden die Elementarfunktionen des Körpers – wie Atmung, Verdauung, Reflexe und Puls vom Stammhirn gesteuert. Nach wie vor bekommen wir Herzklopfen bei Angst, zitternde Knie nach einem Schreck und Schweißausbrüche bei Überforderung.

Und nach wie vor reagiert ein Kind mit Stresssymptomen, wenn zu viel von ihm verlangt wird. Wenn es lernen muss, was es noch nicht lernen kann, wenn es vernünftig sein muss, wo es noch nicht vernünftig sein kann, wenn es sich wie ein kleiner Erwachsener verhalten soll, obwohl es noch ein Kind ist.
Die rundum gebildeten und geförderten Kinder, die in dem sehenswerten Film ‚Nur das Beste für mein Kind‘ nach dem gefragt werden, was sie tun würden, wenn sie die Wahl hätten, antworten fast verschämt: „… ich würde gerne einmal spielen …“.
Schenken wir uns und unseren Kindern wieder mehr Ruhe und Muße. Nur wer sich Ruhe gönnt, ist zu konzentrierter Arbeit fähig. Nur wer müßig sein kann, ist zufrieden und sich selbst genug. Nur wer sich selbst begegnet, weiß wer er ist.

In den sechziger Jahre untersuchte der Neuropsychologe Ernst Pöppel im Auftrag der NASA die Reaktionen der Menschen im Bunker-Experiment. Er schickte erst seine Probanden in die wochenlange Isolation, dann ging er selbst hinein. Aus Neugierde. „… Erst musste ich mich an mich selbst gewöhnen … (und stellte dann fest) … dass ich hoch konzentriert arbeiten konnte, viel weniger abgelenkt … und in gewisser Weise mir selbst genug war …“.

Als er nach zwei Wochen wieder ins Freie trat, „… fühlte ich mich auf eine Art geläutert, die fast schon eine religiöse Komponente hatte. Es war wie eine innere Reinigung, ich hatte sozusagen Kontakt mit mir selbst aufgenommen und erlebt, dass ich von all dem Trubel um mich herum unabhängig sein konnte …“.

Der Forscher war bei sich selbst angekommen.
Wenn Sie und Ihr Kind heute umgeben sind von Hektik, Nervosität und Gereiztheit – dann ist es Zeit abzuschalten. So wie Sie die Bewegung als Ausgleich für den Körper brauchen, so brauchen Sie die Muße als Ausgleich für die Seele.
Wenn Sie Ihre Balance behalten oder wiederherstellen möchten, dann lassen Sie die Seele baumeln. Wenn Sie Ihrem Kind innere Stabilität mit auf den Weg geben wollen, dann schenken Sie ihm unverplante Zeit.
Lassen Sie Ihr Kind träumen und Löcher in die Luft gucken. Gönnen Sie ihm die kostbare Langeweile. Nur wenn die ‚Weile lang‘ wird, sich die Zeit ‚endlos‘ dehnt und ‚Leere‘ erschafft, entsteht dieser wunderbare Impuls, den entstandenen Raum kreativ und schöpferisch zu füllen.[4]Dann kann Ihr Kind alle seine Potenziale entfalten und sich zufrieden und vollständig fühlen.

Für diejenigen, die eine Antwort darauf suchen, wann es Zeit für eine Pause ist, hat Ernst Pöppel noch einen Rat: „… Führen Sie sich abends Ihren Tag vor Augen und fragen Sie sich, was Sie K r e a t i v e s geleistet haben. Kreativität ist ein wichtiges Merkmal eines ausgeglichenen Menschen. Wer nur noch erledigt, abarbeitet und reagiert, braucht definitiv eine Auszeit …“. Schenken Sie sich und Ihrem Kind schon heute schöpferische Leerräume und Zeit für die Begegnung mit sich selbst.

Ihr Kind wird dieses Geschenk dankbar annehmen.

Die Broschüren von Brigitte Hannig sind auch direkt zu beziehen über:

Brigitte Hannig
Hebamme, Früherziehungsberaterin und Festhaltetherapeutin
Beratungspraxis für frühe Probleme
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